Sitzplatzfaschismus

Es ist schon verdammt seltsam:

Mit der Absicht unsere Umwelt vor dem bösen, alles vernichtenden Staatsfeind Nummer 1 (a.k.a. Co2) zu bewahren betrete ich eine Straßenbahn. Der Umwelt-Express beeinhaltet ein wohlig warmes Weltenrettergefühl, welches bestimmt omipräsent ist. Die Tram als Ort an dem sich nachhaltig denkende Menschen rücksichtsvoll und mit einer gehörigen Portion sozialer Wärme begegnen. So schön können Gedanken sein…

Die Realität allerdings demonstriert recht schnell ihre ekelhafte, selbstverliebte Fratze in gewohnt rudimentärer Form: Das komplette vordere Abteil sitzt auf dem äußeren Sitz, sprich der Fensterplatz der unbeqemen Zwei-Sitzer wird frei für imaginäre Freunde oder eine ähnliche Zwangsneurose frei gehalten. Man könnte fast meinen das ein Zwei-Sitzer auch für Zwei Personen gedacht wäre, aber anscheinend liegt der primäre Verwendungszweck des Fensterplatzes darin, überquellende Einkaufstüten, Käsekuchen in Tupperware, einen Blumenstrauß oder ganz schlicht den eigenen Hund darauf zu platzieren. Eventuell erwartet man ja auch eine Verabredung und möchte ihr freundlich, die Bedeutsamkeit der Begrüßung und die Freude des Antreffens unterstreichend, direkt einen Sitzplatz anbieten können den man „eben noch in Petto hatte“ oder noch viel besser „Freigehalten hat weil man ja gespürt hat“ das
der andere gleich eintrifft.

Vielleicht aber liegt diesem seltsamen Verhalten unserer urbanen Mitmenschen aber auch eine tiefliegende Angst zugrunde. Ursache hierfür könnte beispielsweise ein Thriller sein, in dem die Bombe unter dem Fensterplatz platziert gewesen ist. Auch möglich wäre das traumatische Erlebnis sich mit der weißen Hose in ein braunes Cola-Kaugummi gesetzt zu haben. Wo? Natürlich auf einem Fensterplatz.
Aufgrund der eben genannten Fakten verabscheue ich meine Pauschalurteile. Am liebsten würde ich sagen: Es tut mir leid, wenn sich Leser dadurch angesprochen fühlen welche unter diesen Schicksalschlägen ein Leben lang leiden, deren mentale Reichweite einfach unzulänglich ist um solche ein Erlebnis zu verarbeiten. Diese will ich mit diesem Elaborat auch nicht ansprechen. Ich verstehe euch (irgendwie).

Ebenso muss man die Alten sehen. Meist befahren sie nur Strecken zu Ärzten, stets in der Hoffnung verweilent ihre Karte ab 60 vorzeigen zu dürfen. Auch ihnen sei der Platz gewährt. Wie oft war ich schon in der Situation das ich mich über den wunderlichen Gesichtsaudruck meiner Sitznachbarin belustigt habe, bis ich heraus fand das sie aussteigen wollte, ich ihre Bitte aber aufgrund riesiger geschlossener Vollohr-Kopfhörer in Kombination mit brechend lauter Musik einfach nicht wahrgenommen habe.

Nein, sie sollen wirklich nicht Opfer dieses Textes sein.

Vielmehr die Hausfrauen, die Schüler, die Schwarzfahrer die sich die Option „mit einem Sprung aus der Bahn zu verschwinden“ offen halten wollen, die Kurzstreckenfahrer die genausogut stehen beleiben könnten, die Strassgürtel-Frauen mit Monsterpussy-Aufdruck auf den Shirts, die Angst haben jemand könnte sie ansprechen oder noch schlimmer berühren. All diese Guppen haben doch nur eine Angst:

Hilfe, man könnte ja jemanden kennenlernen!

Und deshalb werde ich von nun an, konsequent nach dem Fensterplatz fragen. Es muss ein UMDENKEN stattfinden (politische Phrase Numero 1). Und wenn in der Bahn genau ein Platz besetzt ist und es ist ein äußerer Sitzplatz so werde ich unflätig und rüpelhaft wie ich bin nach dem Fensterplatz fragen.

Schwarzfahrend.